VG-Bild Stipendium 2017

„In Indien fließt in diesen Tagen mehr Blut, als Regen fällt“
Robert Trumbull 1947 in der „New York Times“

Auf der Grand Trunk Road siebzig Jahre nach der Teilung des Indischen Subkontinents

Als der englische Unterhändler Radcliffe am 8. Juli 1947 in Delhi ankam und der Vizekönig ihm sagte, er müsse seine Grenzlinien bis zum 15. August ziehen, konnte der Jurist dies nicht glauben. Er fragte Nehru, da stellvertretender Präsident der Übergangsregierung und Jinnah, den Vorsitzenden der Muslimliga, ob dies denn ernst gemeint sei. Beide bejahten.

Was Nehru einen „tryst with destiny“, ein „Rendezvous mit dem Schicksal“, nannte, war durch Gewalt und die größte bekannte Migration in der Menschheitsgeschichte geprägt: mindestens fünfzehn Millionen Menschen wurden über Nacht zu Flüchtlingen.

„In Indien fließt in diesen Tagen mehr Blut, als Regen fällt“, schrieb Robert Trumbull 1947 in der „New York Times“. „Ich habe Hunderte Tote gesehen, aber, noch viel schlimmer, Tausende Inder ohne Augen, ohne Füße, ohne Hände. Tod durch Erschießen ist ungewöhnliche Gnade.“

Es sind Kolonnen des Elends, bis zu 100 Kilometer lang. „Sie zogen aneinander vorbei, die einen nach Osten, die anderen nach Westen, lautlos, ohne sich anzuschauen“, erzählt der Polizist Aschwini Kumar. Nur mit allernötigster Habe, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Futter für die mitgeführten Tiere, stolpern Millionen ohne Ziel dahin, mit dem einzigen Wunsch, den Mördern zu entkommen, die bis vor Tagen ihre Nachbarn gewesen waren.

Fast eine Million Menschen verlieren in den neunzig chaotischen Tagen ihr Leben.

1997: …Vorfreude vor dem fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens und seiner Teilung: aber auch dieser August versinkt wie schon 1947 im Monsoon und Moslems und Hindus beider Länder verbindet mehr Zweifel und Hass als eine gemeinsame Perspektive.

Indien und Pakistan haben bislang drei Kriege geführt und wettrüsten mit Nuklearwaffen um die Vormacht in der Region. Ein vierter Krieg kündigt sich an: die Streitkräfte der beiden Länder liefern sich fast wöchentlich einen Schlagabtausch an der „Line of Control“ in Kaschmir und ihre Geheimdienste unterstützen in einem wilden Sabotageaustausch gewalttätige, separatistische Gruppen des jeweils anderen Landes.

2017: der Fotograf reist vier Monate auf der Grand Trunk Road und dokumentiert den heutigen status quo in der Region: sie verläuft von Chittagong nach Howrah / Bangladesh, über Nordindien nach Lahore / Pakistan und endet in Kabul / Afghanistan.

Das erarbeitete Material (Collagetechnik und Animation) verschränkt Reportagen von siebzehn Jahren (1992-2009), die der Fotograf in der Region erarbeitet hat, u.a.: Burma (Vertreibung der Karen und Rohingya), Bangladesh (Flut, Flucht), Indien (Gandhis´ Salzmarsch, Aufstände im Gujarat, Überfischung), Sri Lanka (Der Fall Jaffnas´), Pakistan (Karachi – Zusammenbruch einer Stadt, Aufstände in Quetta, Peshawar), Afghanistan (Durand Line, Taliban, nördliche Allianz, Fall Kabuls, Kandahar).

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1999_India_CinaSkriptolzeichnungen nach alten Fotografien | 2017

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